Leseproben

Blaue Zehen

Ismelda & Thinius, Kapitel 1

      Kikkiakki.

      Ein Name, der die Zunge auf den Gaumen hüpfen ließ und die Lippen zu einem Lächeln verzog. Bei all seiner Kürze so voller Rhythmus und Klang, dass er dazu verleitete, den Kopf von der einen Seite zur anderen zu wiegen. Die Arme mitzunehmen, die Hüften, bis sich die Sohlen vom Boden lösten und der ganze Körper zu diesem Klicken in einen tranceartigen Tanz verfallen wollte.

      Nur gab es nichts zu tanzen. Wir hätten uns nur die Zehen angestoßen, von denen wir niemals erfahren würden, ob sie nun gebrochen waren oder nicht. Denn um nichts auf dieser Welt würden wir in dieser Kälte auch nur eines der löchrigen Paar Wollsocken von unseren kalten Füßen schälen wollen. Nicht für ein warmes Bad. Und schon gar nicht für einen verletzten Zeh. [...]

Der Grabstein

      „Das Holz lebt“, hatte Opa immer gesagt. Er meinte, dass uns das Holz Geschichten erzählen würde, wenn wir nur ganz leise wären. Mit diesem Gedanken schlich ich wochenlang im Dachboden unseres Heuschuppens herum, beschnupperte die Bretter und Scheite, die dort zwischen den groben, zersplitterten alten Balken lagerten. Die Luft war kühl, erfrischt von dem jungen Holz und getränkt mit feinen Staubkörnchen, die träge in den vereinzelten, warmen Sonnenstrahlen tanzten. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie ich mich zwischen die Bretter setzte, sie mit meinen kleinen Händen berührte und mucksmäuschenstill darauf wartete, dass sie zu sprechen begannen. Einige der Geschichten spuken mir noch heute durch den Kopf, doch wer sie mir schlussendlich erzählt hat, bleibt für immer hinter dem dicken Schleier verborgen, der sich über meine Kindheit gelegt hat. [...]

Plastikflocken

     Ratternd rollen die grellleuchtenden Behälter vorbei, erlauben auf ihrem Weg nur einen kurzen Blick auf ihren Inhalt. Das Licht kalter Neonröhren verfängt sich in den Hochglanzverpackungen und verschlingt in seiner Intensität die Identität, die darunter liegt. Stillschweigend ergeben sich die Behälter ihrem Schicksal, eine nicht enden wollende Kolonne aus erstarrten Soldaten, die ihren Dienst antreten und das Wertvolle in ihrem Inneren sicher an seine Destination geleiten. Noch bevor sie zum Stillstand kommen, beugen sich bereits die Arbeiter darüber, grapschen hinein und reißen mit dem Knirschen von Plastik unter ihren Händen die Ware ins Freie. Messer werden gezückt, kurz verfängt sich das Licht in ihren scharfen Klingen ehe sie auf die Packungen niederfahren und in die plötzlich weiche Ummantelung stoßen, sie teilen als wäre sie nichts weiter als eine Seifenblase, die ihre Aussichtslosigkeit erkennt und sich kampflos ergibt. Schnell wird das Messer weggesteckt und grobe Finger graben sind durch die schützende Hülle, häuten sie, entreißen sie ihrer Aufgabe. Für einen Moment verharrt sie knisternd in der Hand, doch dann wird sie achtlos fallen gelassen und vergessen. [...]

Lebst du noch oder muuuuuh-st du schon?

     Das Plakat hing über ihm. Einige Meter in der Höhe klebte es an der unregelmäßigen Fassade des Gebäudes, sodass jeder einzelne Ziegel daraus hervorstach und das Plakat aussehen ließ, als hätte es selbst eine Erkrankung.

     PVS – Protein-Virus-Störung. Es kann jeden treffen. Genießen Sie noch oder schützen Sie sich schon?, deklarierte es die Botschaft in leuchtenden, roten Lettern. Ob die Farbe wohl aussehen sollte wie das Blut frischen Fleisches…?

      Peter gaffte mit zusammengekniffenen Augen nach oben. Für einen Moment zweifelte er, ob das Plakat ihn nun vor dem Fleischkonsum abhalten oder ihn dazu animieren sollte.

      Wahrscheinlich wurde das von der Regierung in Auftrag gegeben, um die Impfungen zu propagieren, dachte er bitter und seine Augen verengten sich noch weiter, dieses Mal jedoch in einer Geste abgrundtiefer Abneigung. Er rümpfte die Nase, blies die Luft in einem Stoß aus, als er schnaubte. Wie lächerlich. Das war doch nur eine Farce, um den „Klimawandel“ aufzuhalten. Schnell wurde eine Krankheit erfunden und zufälligerweise entdeckte gerade in diesem Moment ein professioneller Reagenzglasschüttler eine schützende Impfung, die noch dazu zum günstigen Preis von nur 300€ der breiten Öffentlichkeit angeboten wurde. [...]

Das Leder so rau

      Wie das Tier, das es einst war, streift das steife Leder über mich und gräbt seine längst verlorenen Fangzähne in meine Haut. Es hinterlässt nichts als einen roten Strich und ein Schaudern, das meine tiefsten Ängste an die Oberfläche treiben lässt. Ein Begleiter, der nach meiner Kehle greift und sie zuschnürt. Ein Begleiter, den ich zu lieben lernte.

     Ich greife nach dem scharfkantigen, toten Stück, das zwischen meinen Fingern wieder lebendig wird und mit seinen Metallschnallen nach mir schnappt. Er ist nicht der Erste, den ich zu bändigen weiß, doch es wird mein Letzter sein. Der flauschige Teppich drückt sich liebevoll an meine Beine, dämpft die Härte des darunter liegenden Bodens für meine nackten Knie, als wüsste er, was mir bevorsteht und als wollte er mir wenigstens etwas daran erleichtern. [...]

Wohltätiges Senderherz

     Aufblende. Tosender Applaus. Schweinwerfer kreisen durch den Raum, vermengen sich zu einem Brennpunkt auf der Bühne. Der Showmaster hüpft beschwingten Schrittes in das Licht, breitet die Arme aus und badet im aufheulenden Jubel des Publikums.

     Hände klatschen. Beine trommeln.

Der Showmaster winkt ab, als wäre es ihm peinlich. Strahlend lächelt er in die Kameras und verbeugt sich noch einmal.

     „Herzlich willkommen zur drittbesten Sendung der Welt!“, frohlockt er mit kreischender Stimme. Das Klatschen ebbt langsam ab. „Ich begrüße Sie, nicht nur hier live im Publikum, sondern auch Sie zuhause vor den Bildschirmen! Heute Abend haben nicht nur Sie zu uns geschaltet, nein, Millionen anderer haben es Ihnen gleichgetan!“

     Der Showmaster klatscht in die Hände und reibt sie aneinander. Er wirft einen wissenden Blick spielerisch in die Kameras. „Heute Abend sagen wir ein letztes Mal für dieses Jahr: WortlosOrtlos – Wir suchen den talentiertesten Obdachlosen! Nun, wen haben unsere kleinen Helferlein aus der Redaktion für uns auf den Straßen gefunden?“ [...]

J. G. H.

     Dein Herz schlägt. Nur wenige Tage – präziser gesagt nach circa 28 Erdumdrehungen – nachdem sich Ei- und Samenzelle zu einem Gemenge verschmolzen haben und eben dieses sich eingenistet hat, beginnt es zu schlagen. Es schlägt noch bevor dein Körper, deine Organe, einfach alles an dir die Formen erahnen lässt, die er nach den Monaten der kraftaufwändigen Reifung angenommen haben wird. Das Herz ist ein Muskel, ein sehr starker Muskel, hält er doch ein ganzes Leben lang seinen stetigen Rhythmus aufrecht und pumpt mit jeder Kontraktion Blut durch deinen Körper. Du kannst also davon ausgehen, dass dein Herz eine lebenswichtige Aufgabe innehat und diese auch – hoffentlich – mit äußerster Zufriedenheit erfüllen wird. Neben dieser essenziellen Funktion, ist dein Herz aber auch noch etwas anderes: es ist dein Hort der Liebe oder, wie andere Verfechter dieser Theorie behaupten, deiner Seele. Ist es ein Zufall, dass sich das Gehirn, der Träger deiner Vernunft, des rationalen Denkens, Meister der physischen Funktionen, erst nach deinem Herzen richtig ausprägt? Die Liebe war zuerst Teil deines Seins noch bevor es die Vernunft war, die seine Kraft und Bedeutung schließlich überschattete und in Frage stellte. Wie oft kam es schon vor, dass dir dein Herz etwas sagte, doch dein Gehirn lauthals dagegen protestierte? [...]

Der Werkeks

      Langsam verblasste die Sonne hinter der zackigen, schwarzen Silhouette der Bergkette. Letzte, orange Strahlen klammerten sich an das Massiv, drängten sich dahinter hervor, um noch einige Sekunden länger ihre Wärme in das Tal hinab zu werfen. Die Dunkelheit rückte näher heran, legte sich schwer auf das Licht und überschattete es bis es nichts weiter war als ein Glanz in der Ferne. Für einen kurzen Moment spiegelte es sich noch in den Schneekuppen des Gipfels, sodass die Bergkette feuerrot in der Schwärze des Nachthimmels aufflammte. Dann verschwamm die Dunkelheit, zog sich über sie und nahm jegliche Form aus der Welt. 

     Stein schlug auf Stein. 

     Immer wieder schnalzte das harte, zischende Geräusch auf. Funken stoben, erhellten für den Bruchteil einer Sekunde die Schwärze und spiegelte sich in drei Augenpaaren, die sich um das Lager versammelt hatten. Ihr kalter, weißer Atem hing in kleinen Wolken zwischen ihnen. Dima rieb sich die bloßen Hände und schreckte hoch als ein Ast hinter ihm knackte. Sein Atem stockte, die Funken bissen sich in das Holz und ein schwacher Schein erhellte plötzlich seine Sicht. Kahlgefressene Bäume drangen aus der Dunkelheit hervor. Eine dicke, weiße Schneedecke verlor sich zwischen den Stämmen, ihre ebenmäßige, reine Oberfläche durch einzelne Spuren zerstört. Die Flammen wurden stärker, ließen das Holz flackern und warfen zuckende Schemen über die glänzenden Schneekristalle. [...]

Mein neues Hobby

     Mein Name ist Zolà. Nicht Zoola. Nicht Zolla. Und auch nicht Solar.
     Wie oft musste ich mir schon anhören, wie schön doch mein Name sei. So besonders. So selten. Für manche auch so schwierig, um ihn richtig auszusprechen. Was ich aber auch noch öfter höre, ist das, was direkt im Anschluss gesagt wird.

     „So ein hübscher Name. Würdest du nur etwas mehr aus dir machen, könnte man dich auch ein hübsches Mädchen nennen – vielleicht klappt es dann auch endlich Mal mit einem Mann.“

     Tja. Sowas sitzt. Oft auch an der richtigen Stelle so richtig tief. Und heute war es dann soweit. Vor versammelter Mannschaft wurde es mir wieder einmal schonungslos ins Gesicht gerieben. Und anstatt darüber hinwegzusehen, zu lachen und meine typische Antwort – nämlich: ich bin halt der natürliche Typ – anzubringen, merkte ich den kleinen widerspenstigen Gedanken in mir, der sich langsam aber doch immer weiter zu einem Trotz entwickelte. Noch bevor ich wusste, was ich tat, saß ich schon im Auto, warf einen kritischen Blick in mein Gesicht und fragte mich, was daran nicht in Ordnung sein sollte. Anscheinend ja vieles nicht. [...]